Frühe Siedlung und Kontrolle über Sihldelta und Seeabfluss
In der Umgebung des Münsterhofes und generell am Fuss des Lindenhofhügelswurden immer wieder römerzeitliche Funde gemacht, die direkt auf der Seekreide liegen. Über den Funden liegt die Siltschicht, sie hat sich also später gebildet. Unmittelbar auf der Siltschicht wiederum beginnen Siedlungsstrukturen, welche mit dem 853 n. Chr. gestifteten Fraumünster in Zusammenhang zu bringen sind. Spätestens ab dann ist hier Siedlung – und mit dem Fraumünster sogar ein zentraler Teil davon. Nur wenig früher war hier, gleich unterhalb des Lindenhofs und mitten in der heutigen Zürcher City, noch grossräumig See, mit einem Unterbruch in römischer Zeit offenbar. Hier scheinen sich also geologische und archäologische Schichten in einer Art abzuwechseln, die weit über kleinere lokale Ereignisse, wie Rutschungen oder temporäre Überschwemmungen hinausgehen.
Wasser – der See, die Limmat und die Sihl – sie bildeten schon in der Frühzeit den Raum, in dem sich Menschen niederliessen. So ist es auch kein Zufall, dass das Fraumünster genau an der Stelle gebaut wurde, wo es steht.
In der Frühzeit Zürichs hat die Sihl den Siedlungsraum Zürichs in einem Ausmass geprägt, das heute kaum noch nachvollziehbar ist. Der Untergrund von Aussersihl, aber auch jener der City um den Paradeplatz, wurde von der Sihl aufgeschüttet. Sihlschotter liess zudem den Seespiegel zeitweise soweit ansteigen, dass der Zürichsee bis an den Lindenhofhügel reichte. Mit diesen Faktoren mussten sich die keltischen, römischen und frühmittelalterlichen Siedler auseinandersetzen.
Der Boden, auf dem heute die Stadt Zürich steht, birgt nicht nur vielfältige Relikte der menschlichen Geschichte. Der Aufbau des Bodens und die Gestalt der Topografie sind das Resultat eines sehr viel älteren Prozesses, der weit hinter die wenigen Jahrtausende zurückreicht, seit denen der Mensch in diesem Raum Spuren hinterlassen hat.
Archäologie und Geologie
Meistens liegen diese archäologischen und geologischen Relikte in einer klaren zeitlichen Reihenfolge. Das Zeitalter der Geologie kommt vor jenem der Archäologie und die geologischen Schichten liegen unter den vom Menschen verursachten. Weil die Archäologie ihren Fokus auf die Besiedelung richtet, endet normalerweise eine Ausgrabung dort, wo die Kulturschichten aufhören und der «sterile Boden» beginnt. Ausgerechnet das flache Gebiet der heutigen Zürcher Innenstadt um Bahnhofstrasse und Paradeplatz birgt nun aber im Boden Spuren, welche auf ein spannendes Zusammenwirken von Naturvorgängen und dem Menschen in der Frühzeit seiner Siedlungstätigkeit in diesem Raum hinweisen.
Das Fraumünster im Sihldelta
Das königliche Eigenkloster, das König Ludwig der Deutsche für seine beiden Töchter gestiftet hatte, wurde ausgerechnet in jenes flache Gebiet gebaut, das zuvor langfristig unter Wasser stand. Die Bauleute scheinen sich ihrer Sache sicher gewesen zu sein, als sie für diesen repräsentativen Bau eine derart exponierte Lange gewählt haben. Seit karolingischer Zeit blieben dann die extremen Seehochstände aus. Diese Beobachtungen zusammengenommen führen zu folgender Hypothese:
Die Besiedelung des Zürcher Raumes ist mit einer Kontrolle des Sihldeltas und des Seeabflusses verbunden. Dass die Römer dazu in der Lage waren, erstaunt nicht, und auch die seit karolingischer Zeit bedeutende mittelalterliche Bautätigkeit in Zürich dürfte eine Konsolidierung des Naturraumes voraussetzen.
Dölf Wild, Archäologie Stadt Zürich